Die Eintrittsschleuse ins Reich des ONH ist der Museumsgarten und Skulpturenpark, den „Passanten“ zu Rad, Fuß oder Wasser auf dem schmalen Landstrich zwischen Meer und Lagune entdecken können. Geschützt von einem flachen Mauerwerk gibt er den Blick in eine Parallelwelt frei: Unter dem schützenden Blätterdach der Pappeln und Eichen liegen, knien, schlafen oder stehen Skulpturen aus Marmor, Zementguss, Sandstein oder Bronze im Gras. Die Plastiken sind Zeugnisse von ONHs großem Freundeskreis unter denen viele bekannte Bildhauer der Zwischenkriegszeit wie Fritz Cremer, Waldemar Grzimek, Wieland Förster, Werner Stötzer, Jo Jastram und Peter Makolies zu finden sind. Niemeyer-Holstein selbst war kein Bildhauer. Erst beim zweiten Blick begreift man das verklärt wirkende Gartenareal als eine gut durchdachte Freiluftgalerie aus offenen, sich begegnenden Achsen. Dieser dicht begrünte Ort wurde erst über viele Jahrzehnte zu einer Naturbühne für Kunst.
Stille Kunst zwischen Ostsee & Achterwasser
Das Museum und Atelier Otto Niemeyer-Holstein liegt an der schmalsten Stelle Usedoms. Es ist ein Ort der Entschleunigung. Es lohnt sich, sich die Zeit zu nehmen, um sich auf den Kosmos des Künstlers einzulassen.
Pinselbewegung zwischen Wasser, Land und Meer
Lüttenort: Nur dreihundert Meter trennen an dieser besonderen Stelle die Ostsee und das Achterwasser. Der „kleine Ort“ zwischen Koserow und Zempin beherbergt ein großes Vermächtnis. Der wohl bekannteste Maler der Ostseeregion, Otto Niemeyer Holstein (1896 – 1984) – von Ortsansässigen auch pragmatisch-liebevoll als ONH abgekürzt - lebte und arbeitete fast fünf Jahrzehnte hier. Zunächst nutzte er sein Refugium als Sommer- und Wochenendresidenz, später als politische Enklave und Schutzraum vor den Nazis.
Vor 90 Jahren erwarb der Visionär das 5000 qm große „Ödland ohne Vegetation“. Auf seinen Reisen durch Europa hatte er sich immer wieder Gärten angesehen. Durch Kompostierungen mit Pferdeäpfeln und Kalk gelang es ihm, das vom Salz des Meerwassers verwüstete Niemandsland zu dieser Freilicht-Kunstoase zu transformieren. Heute ist das seit 1933 historisch gewachsene Ensemble von Wohnhaus, Atelier und Garten ein erlebbares „Personalmuseum“ und einmaliges Kleinod. ONH hatte zu seinem Tod 1985 sein Lebenswerk der Insel Usedom hinterlassen, damit Besucher sein auf Staffelei und Papier gebrachtes Inneres nachvollziehen und seinen Lebensraum als sein Alter Ego begreifen können. Zum Nachlass in Lüttenort gehörten auch die architektonischen Pläne für den 2001 fertiggestellten Galerieanbau. Die transparenten Räume in dem modernen Glaskubus sollten der „lichtdurchflutete Rahmen für Bilder“ sein. In den zwei Mal jährlich wechselnden Ausstellungen werden Werke aus dem museumseigenen Fundus, wie auch Arbeiten der etwa 200 befreundeten Zeitgenossen der „klassischen Moderne“ gezeigt. Die Künstler haben ihre Arbeiten untereinander getauscht oder geschenkt.
Ausrangierter Packwagen der Berliner Stadtbahn als Wohnhaus
1925 war der in Kiel geborene Künstler nach Lebensstationen in ganz Europa nach Berlin gezogen. Auf der Suche nach einer temporären Bleibe in der Natur, hatte er die Landscholle bereits 1928 mit seiner Frau Anneliese auf einem Segelausflug entdeckt. Die Urzelle seines Wohnhauses bildet ein ausrangierter Packwagen der Berliner Stadtbahn, den Otto Niemeyer-Holstein 1933 als Sommerunterkunft nach Lüttenort hatte bugsieren lassen. Später bildete der Waggon das Verbindungsstück zwischen Garten und Wohnbereich. Das Interieur wirkt wie ein zusammengewürfeltes atmosphärisches Patchwork. Man könnte meinen, gleichzeitig in Italien, Frankreich, Spanien, Großbritannien, der Schweiz oder Berlin zu sein. Von all seinen Reisen und Lebens-Stationen hatte der umtriebige (Lebens-) Künstler Möbel und Artefakte mitgebracht. Bevor Lüttenort seine Lebens- und Wirkungsstätte, aber auch sein Zuflucht- und Ankommens-Ort werden sollte, war sein Leben selbst wie eine Galerie an bewegenden Erlebnissen.
Momentaufnahmen der Natur in feinen Pinselstrichen
ONH faszinierte die Grenzwelt zwischen Land und Meer, Salz- und Süßwasser, Deich und Buhnen. Er wurde nie müde von seinen täglichen Spaziergängen. Auch nicht davon, die grafische Anordnung der Pfähle, die beige-grau schattierten Farben der Steine, den grobkörnigen Sand des Achterwassers oder den Strand auf der Halbinsel Gnitz mit feinen Pinselstrichen immer und immer wieder aufs Papier zu bannen. Der winterliche Strand mit seinem matten Licht, das sich mit dem Wind in den Schilfhalmen verfängt, hatte es ihm besonders angetan.
Sommerausstellung 2023
Unter dem Titel „In die Ferne träumen – Otto Niemeyer-Holstein – Bilder vom Meer“ eröffnet das Atelier Otto Niemeyer-Holstein am 15. April die Sommerausstellung 2023. Bis zum 15. Oktober sind die Werke, die als Leihgaben aus sieben Museen und von drei privaten Leihgebern zusammengetragen wurden, zu sehen. Die Ausstellung zeigt vor allem Bilder, die der Künstler von der Ostsee und der Küstenlandschaft der Insel Usedom schuf. Sie gelten als Höhepunkt seines reifen Werks.
Über die Autorin: Anke Sademann
Die Green Lifestyle- und Reisejournalistin und Autorin Anke Sademann streift nicht nur durch europäische Gefilde. Auch ihre Wahlheimat Berlin und sein Umland bis hoch zur Küste erkundet die Slow-Travel-Spezialistin seit mehr als eine Dekade. Anke Sademann schreibt für diverse Magazine und Zeitungen mit dem Fokus auf nachhaltiges Leben. Sie hat auch unsere Sonneninsel besucht: Authentisch und nahbar vermittelt sie ihren ganz persönlichen Blick auf Usedom und seine nachhaltigen Reiseangebote.
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