Usedomer Senf-Renaissance
Der Tutower Senf war zu DDR-Zeiten eine echte Kultmarke aus Vorpommern. Heute wird der scharfe Meerrettich-Mostrich nach Originalrezept von der Inselmühle Usedom produziert und unter dem Namen "Pommern-Senf Tutower Original" vertrieben.
Usedomer Senf-Renaissance
Auf der Sonneninsel Usedom und im östlichen Deutschland hat Senf eine besonders lange, liebevoll gepflegte Heimat-Geschichte. Die würzige Paste aus den rapsgelben Senfpflanzen ist nicht nur DDR-Ostalgie. Seit der Wende ist der lange gehaltene Pro-Kopf-Verbrauch an Senf von etwa 1,5 Kilogramm pro anno, über die Jahre nur leicht gesunken. Es lag also nicht nur am Ketchup, der in den neuen Bundesländern ein Raritätskleks zur Wurst war. Der gute Mostrich galt sogar als Grundnahrungsmittel. Staatlich gefördert, kosteten die kleinen kultigen, gelben und blauen Plastikpöttchen des „Bautz´ner“ und des „Tutower“ nur ein paar Groschen. Senf stand, gleich neben Salz und Pfeffer, immer griffbereit auf jedem ostdeutschen Tisch, kam sogar direkt auf die gute Butterstulle und begleitete jede Brotzeit mit Aufschnitt und Käse. Im Raum Mecklenburg-Vorpommern wurde er als feste, aber cremige Instanz zu den vielen Fleischgerichten gereicht - am liebsten mit einem Hauch Meerrettich. Kann er doch gleichzeitig scharf, würzig, sauer und auch süß schmecken. Er passt einfach hervorragend zur deftigen mecklenburgisch-pommerschen Küche, die vor allem für ihre Fisch-Finessen wie den Räucherfisch, das kultige Fischbrötchen oder die Müritzer Fischsuppe bekannt ist.
Senf – ein Kulturgut des Ostens
In 17 Orten wurde früher Senf produziert. Fünf davon gibt’s noch: Der bekannteste ist der Sachse – der „Bautz‘ner", der bereits seit 1866 (ergo: keine DDR-Erfindung) mit der Senfherstellung in Ostdeutschland verbunden wird und sich als gesamtdeutscher Marktführer in vielen Kühlschränken findet. Seit den 70ern wird er in Kleinwelka produziert. Im brandenburgischen Jüterbog ist eine weitere gleichnamige Senfmarke zu finden, in Thüringen steht der Name „Born Senf“ auf der Etikette. Auch der Altenburger Senf mit seinem Köstritzer Schwarzbiersenf ist in einer Neuauflage seit 1992 wieder in Thüringen heimisch. Der Ost-Senf war durch seine Blässe zu erkennen, im Westen färbte man die Senfe oft mit Kurkuma ein.
Senf nach Usedomer Art
Auch die Sonneninsel Usedom hat ihren eigenen senfigen Lokalhelden - den „Pommernsenf“. Das klingt alt, ist aber ein „neuer Name“ für ein traditionelles Produkt. Auch wenn sein Rezept schon 150 Jahre alt ist, wäre der Original Tutower um ein Korn fast für immer von der Senfbühne verschwunden. Erst seit 2022 stellt ihn die Usedomer Inselmühle nach Originalrezeptur wieder her. Die einzige selbstproduzierende Naturmanufaktur der Sonneninsel hatte 2021 erst neu eröffnet und belebt mit vielen anderen Produkten (maßgeblich in Bioqualität) alte Traditionen neu. Angefangen bei ihrem Standort und Gebäude: in dem 160 Jahre alten Backsteingebäude– früher noch mit einem Windrad und Mühle – wurde lange-lange Getreide gemahlen. Nach einer größeren Renovierung wird hier heute, neben kaltgepressten Raps- und anderen Speiseölen, naturbelassenen Direktsäften, Fruchtaufstrichen und feinen Spirituosen auch wieder Senf produziert. Zur Inselmühle in der Stadt Usedom gehören auch um die 200 Hektar Land – vom Haff runter bis zu Karnin und Mönchshof. Neben Obstbäumen und Aronia-Sträuchern für Weine, Marmeladen oder Chutneys, sind nun neuerdings auch die gelben Senfblüten und eine Aprikosenplantage mit 6000 Bäumen heimisch geworden sind. Der leichte Wind vom Meer vertreibt die Schädlinge. Alles beste Voraussetzungen für die pommersche Goldcreme. Im nahen Zweitprojekt der Inselmühle – auf dem Weingut Schloß Rattey - wird erstmals in der Region auch wieder Wein angebaut und feiner Weinessig angesetzt - eine Hauptzutat von Mostert.
Wie alles begann
Werfen wir aber mal einen Blick ins Ur-Senfglas und seine Geschichte: Vor über 150 Jahren wurde die Rezeptur des Insel-Senfs in Stettin entwickelt. Eine Firma namens Müller & Bolle füllte ihn erstmals ins Glas. Dann kam der Krieg und der Senf ging auf Wanderschaft: In den letzten Kriegstagen ausgebombt, suchte die Firma eine neue Betriebsstätte. Erst gings nach Loitz im Unteren Peenetal. In den 50er Jahren enteignet, wurde die Produktion 1964 dann schließlich in die Peeneland Konservenfabrik des „VEB Nordfrucht“ nach Tutow im Landkreis Vorpommern-Greifswald verlagert. Der Loitzer Speisesenf wurde zum Identität-stiftenden „Tutower“ umgetauft und bekam so endlich Kultformat. Ohne Geschmacksverstärker und Farbstoffe aber schön scharf, das war schon damals die Devise. Mit Meerrettich als scharfen Twist - oder ohne, gab es ihn fortan in einem handlich kompakten, sehr gelb leuchtenden Plastikbecher. Jeder Tutower und die Mecklenburger hatte ihren Tutower im Schrank und viele – angeblich fast alle -im 1000 Seelen-Senf-Städtchen arbeiteten irgendwann auch mal in der Produktionsstätte.
Wie alles aufhörte und weiterging
Trotz seiner Beliebtheit musste das Unternehmen 2002 Insolvenz anmelden. Nach mehrfachem Wechsel der Besitzer verlagerte man die Produktion nach Stavenhagen bei Neubrandenburg. In der alten Konservenfabrik in Tutow fand 2010 das örtliche DDR-Museum ein neues Zuhause. Die historische Produktionsstätte blieb in einem Seitentrakt des Gebäudekomplexes museal erhalten. Im September 2020 war Schluss mit dem Tutower Heimat-Senf. Der letzte Eigentümer aus Niederbayern verkündetet die Produktion der Traditionsmarke „Tutower Senf“ aus bis heute etwas unklaren Gründen als für immer eingestellt. Die Expansion des Senfs hatte wohl nicht funktioniert. Die letzten Chargen wurden wie Reliquien verkauft. Tutow war in Trauer.
Die Senfretter von der Insel
Doch dann ging alles ganz schnell: Stefan Schmidt, der Weingutsleiter des zur Inselmühle gehörenden Schloss Rattey, setzte sich mit dem Tutower Bürgermeister Roland Heiden in Verbindung und nahm Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitern der Tutower Senffabrik Kontakt auf. Gemeinsam fuhr die Tutower Delegation mit der Original-Rezeptur in der Tasche zur Inselmühle Usedom und experimentierte unter Manufakturbedingungen. Mit Erfolg. Der Versuch war geglückt. Der Senf schmeckt wie das Original.
Senf nach Art der (Sonnen-) Inselmühle
Der Senf heißt von nun an „Pommernsenf Tutower Original“, und es gibt ihn bereits in fünf Varianten im Original mit und ohne Meerrettich, mit Aprikose, Sanddorn und als Matrosensenf mit Rum. So steckt auch die Küste mit im Glas. Hinzu kommen zweimal Pommern-Sooß – Barbecue und Ketchup.
Regionaler geht’s kaum
Alle Hauptinhaltsstoff werden auf der eigenen Scholle der Inselmühle oder im Umkreis Usedom angebaut. Ohne Senfmehl, künstliche Aromen oder Konservierungsstoffe versteht sich. Zwei Sorten Senfsaaten, die auf den Feldern der Inselmühle auf Usedom wachsen, werden dort frisch gemahlen, kalt angesetzt und vor Ort abgefüllt. Sanddorn spielte geschichtlich in Mecklenburg-Vorpommern schon immer eine wichtige Rolle. So werden die gelben Beeren neben Fruchtaufstrichen, Säften oder Likören nun auch im „Pommernsenf auf Usedomer Art – original aus Mecklenburg-Vorpommern“ verarbeitet. Den Senf kann man vor Ort in der Inselmühle Usedom sowie in ausgewählten Supermärkten, Hofläden, Feinkostgeschäften und Hotels der Region kaufen oder online bestellen. Es werden auch Führungen durch die Manufaktur angeboten und alle Senfsorten sind im Laden mit Bistro zu verkosten. Aber Achtung: Je frischer die Abfüllung, desto schärfer der Senf!
Über die Autorin: Anke Sademann
Die Green Lifestyle- und Reisejournalistin und Autorin Anke Sademann streift nicht nur durch europäische Gefilde. Auch ihre Wahlheimat Berlin und sein Umland bis hoch zur Küste erkundet die Slow-Travel-Spezialistin seit mehr als eine Dekade. Anke Sademann schreibt für diverse Magazine und Zeitungen mit dem Fokus auf nachhaltiges Leben. Sie hat auch unsere Sonneninsel besucht: Authentisch und nahbar vermittelt sie ihren ganz persönlichen Blick auf Usedom und seine nachhaltigen Reiseangebote.
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